Gegen 9 Uhr bin ich bei einem kühlen Lüftchen in Léon gestartet. Mein Ziel: Astorga. Der zweite Tag meiner Pilgerreise auf dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Die ersten 46 Kilometer lagen bereits hinter mir. Ich spürte die Freiheit. Ganz allein, nur ich, mein neues Fahrrad, minimalistisches Gepäck und Cindy Lauper im Ohr. Mein Herz sprühte vor Freude – vorbei! Jetzt quäle ich mich bei 40 Grad im Schatten die steilen Serpentinen der Schnellstraße hoch. Meine Beine versagen den Dienst, meine Haut brennt. Ich habe Hunger und eben den letzten Schluck Wasser getrunken. Mittlerweile bin ich seit sechs Stunden unterwegs, nirgends ein Dorf in Sicht – nur Felsen und Asphalt.
Mein Plan sieht eigentlich vor, dass ich meine Mittagspause in einer kleinen Bar verbringe, mir eine ordentliche Tortilla gönne und mit Kaffee und Zigarette Energie tanke. Nach 20 Kilometern das erste Dorf, ein Bauernhof. Dort bietet man mir rohe Kartoffeln an. Was soll ich denn bitte damit? Das Essen fällt aus.
Die nächste Etappe ist noch über 20 Kilometer entfernt, die Strecke führt bergauf. Astorga ist das Ziel, und das liegt im Tal, umzingelt von Gebirge. Es geht wirklich nicht mehr. Nirgends ein schattiges Plätzchen. Rechts neben der Straße eine steile Steinwand, links ein Abgrund. Jede Kurve sieht aus, als wäre sie die letzte. Irgendwann beginne ich zu schieben. Verdammt! Ich will nicht mehr!
Meine erste Pilgerfahrt endet nach 400 Kilometern unfreiwillig
Ich wusste was mich erwartet. Meine erste Pilgerfahrt musste ich nach 400 Kilometern abbrechen. Das war vor einem Jahr. Damals war ich nach der Trennung von meiner Ex eines morgens aufgewacht und hatte entschieden: Es ist Zeit für den Jakobsweg. Ich wollte mal über alles nachdenken. Also buchte ich Flüge, schnappte einen Bekannten und mein steinaltes Fahrrad. Völlig ahnungslos flogen wir nach Spanien. Start in Pamplona, Meniskus kaputt kurz vor León. Die restlichen zwei Wochen meines ersten Pilgerurlaubs wartete ich alleine auf meinen Rückflug. Ich schwor mir zurückzukommen und die verbliebenen 300 Kilometer zu Ende zu radeln.
Ein Jahr später ist es soweit, diesmal pilgere ich allein, mit einem besseren Fahrrad und nicht im Hochsommer, sondern im März. Eine clevere Entscheidung. Im ersten Jahr musste ich nicht nur beim Radfahren an meine körperlichen Grenzen gehen, viel schwieriger waren die Herbergen: der unglaubliche Dreck, der Schimmel und die Massen an Menschen. Zusammen in einem Zimmer mit 50 Menschen zu schlafen, ist eine echte Herausforderung.
Im Frühjahr dagegen: kein Mensch unterwegs. Völlig einsam erklimme ich schiebend den Berg, traumhafte Aussicht. Nur ab und an zischt ein LKW vorbei und wedelt mich fast von der Straße. Auch wenn ich noch so laut mit Cindy Lauper gröle „Girls, just wanna have fun!“ – Fun ist das nicht! Irgendwann zwinge ich mich wieder aufs Rad. In der Ferne erkenne ich eine bunte Fahne. Habe ich schon Halluzinationen? Ein Anzeichen von Zivilisation? Ich trete in die Pedale. Langsam erkenne ich eine kleine Siedlung, Häuser aus Naturstein. Die Jakobsmuschel, das Zeichen der PilgerInnen, prangt am Eingang, umringt von Wegweisern und bunten Fahnen. Ich stelle mein Rad ab und krieche förmlich in die kleine Siedlung. Ein Mann begrüßt mich freundlich. Sein Gesicht wirkt wie aus Stein gehauen.

Hippie-Siedlung auf 1.400 Metern: Ich bin im Paradies!
Hier lebt eine kleine Kommune, die Schmuck und Geschenke für PilgerInnen herstellt. Sie geben mir Wasser und Kekse, später laden sie mich zu Tisch. Es gibt eine herzhafte Suppe mit Fleisch und Gemüse, knackigen Salat und selbstgebackenes Brot. Ich bin im Paradies! Sie erzählen mir, dass ich nun den Gipfel erklommen habe. Wir speisen in 1.400 Metern Höhe. Ich bleibe ein paar Stunden und tanke Energie. Die restlichen 20 Kilometer geht es zum Glück bergab.
Jede Begegnung verändert meinen Blick auf die Welt
Denke ich heute daran zurück, spüre ich noch immer das Glück dieses Moments. Davor hatte ich den Weg, die Sonne und mich selbst verflucht. An die Erleuchtung glaube ich nicht, auch nicht an Gott. Warum dann diese Qual? Ich wollte nur noch zurück und faul auf der Couch liegen mit einem kühlen Bier. Als ich schließlich bei diesen unglaublich freundlichen Leuten sitze, die mich als einen Teil ihrer Gemeinde behandeln, mich versorgen und mir Hoffnung schenken, weiß ich: Das war die Anstrengung wert.
Pilgern – irgendwann werde ich es wieder tun. Ich habe interessante Menschen aus aller Welt getroffen, aus Japan, England, Italien und Frankreich. Menschen, die auf der Suche nach einem Sinn waren. Menschen, die ihr Leben ändern wollten und seit Monaten unterwegs waren. Auch die Hilfsbereitschaft der Einheimischen hat mich tief beeindruckt. In Astorga führte mich ein alter Professor durch die Stadt – einfach so für ein ᴉmuchas gracias!. Jede dieser Begegnungen veränderte meinen Blick auf die Welt. Ich habe nicht die Erleuchtung gefunden, dafür aber etwas Unbezahlbares: Glück und Zufriedenheit.
Herberge in Fisterra (Am Ende der Welt)
Dana Müller
queer-travel.net 30.06.2012
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